Der Jünger, den Jesus liebte
Wie kommt uns nun diese biblische Männergestalt im Johannesevangelium entgegen und was hat uns diese für unseren Glauben und für unser Leben zu sagen?
Es sind fünf sehr markante Stellen, in denen „der Jünger, den Jesus liebte“ vorkommt. Es lohnt sich, diese fünf Stellen oder Szenen jeweils in ihrer Gesamtheit und in ihrem Kontext zu lesen (Diese sind jeweils in Klammer angeführt!):
- Beim Letzen Abendmahl: Joh 13,23 (à 13, 21-26)
- Unter dem Kreuz: Joh 19,26 (à 19, 25-30)
- Am Ostermorgen: Joh 20,2 (à 20, 1-10)
- Bei der Erscheinung des Auferstandenen am See von Tiberias: Joh 21,7 (à 21, 1-11)
- In der Frage der Nachfolge Jesu: Joh 21,20 (à 21, 15-23)
Nähe und Verbundenheit
Der „Jünger, den Jesus liebte“ wird im ganzen Evangelium als der geschildert, der sieht, der tiefer schaut, der das Geheimnis Jesu erkennt. In der Abendmahlszene ruht er am Herzen Jesu. Er spürt sozusagen den Pulsschlag des leidenschaftlichen Wirkens Jesu in der Welt und der Verbundenheit mit seinem Vater.
Dieses ikonische Bild von der Nähe dieses unbenannten Jüngers zu Jesus bringt für mich die Bedeutung der Kontemplation und des Zuhörens für das geistliche Leben zum Ausdruck. Er wird oft als derjenige dargestellt, der den Worten Jesu tief zuhört und über die Geheimnisse der Identität Jesu nachdenkt. Dieser Jünger steht für: in der Nähe und im Angesicht des Gottessohnes gegenwärtig sein und zulassen, dass seine Worte ins Herz eindringen können. Zeiten für Rückzug und Stille, für Gebet oder Mediation schaffen den Raum, in dem wir Gottes Nähe spüren und Gottes Stimme hören können.
So wird dieser unbenannte Jünger zum Vorbild und er zeigt uns, was es bedeutet Jesus nahe zu sein, in seiner Liebe zu ruhen und ihm vollkommen zu vertrauen. In seiner Gestalt wird uns in besonderer Weise vor Augen geführt, dass es auf unserem Lebens- und Glaubensweg ganz wesentlich um eine emotionale und spirituelle Empfänglichkeit geht. Es geht nicht zuerst um ein Tun, sondern um ein Dasein, ein Fühlen und Spüren von Nähe und Verbundenheit.
Der „Jünger, den Jesus liebte“ eröffnet uns ein weiteres wichtiges Thema für uns Männer: die Bedeutung von Freundschaft. Freundschaft unter Männern hat eine besondere Qualität und ist eine wirkliche Bereicherung für unser Männerleben. Wenn es uns Männern gelingt, dass wir uns auch unter Männern offen, berührbar, vielleicht manchmal auch verletzlich oder hilfsbedürftig zeigen, ist das überaus wertvoll. Emotionale Verbundenheit zu zeigen und zu leben, tut uns Männern wirklich gut.
Aushalten und Standhalten
Der „Jünger, den Jesus liebte“ ist derjenige unter den Jüngern, der auch unter dem Kreuz aushält und standhält. In einer Situation von Aussichtslosigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit bleibt er da. Auch in den menschlich schwierigen Grenzsituationen schöpft er Kraft aus der göttlichen Liebe und Umarmung. In dieser Verbundenheit nimmt er den göttlichen Auftrag entgegen, den Auftrag für andere da zu sein und zu sorgen. Jesus vertraut diesem Jünger seine Mutter Maria an und dieser nimmt diese Aufgabe an, für Maria zu sorgen.
Auch in diesem Bild entdecken wir einen wichtigen Hinweis für unser Bild von Männlichkeit. Diese Szene unter dem Kreuz kann uns dazu anregen, in unserem Leben auch den Aspekt der Fürsorglichkeit zu verwirklichen – vor allem den Menschen gegenüber, die uns anvertraut sind: in der Familie, in der Gesellschaft oder im Beruf, aber auch – der Botschaft und dem Beispiel Jesu folgend – den Armen, Schwachen, Kranken, Schuldig-Gewordenen, Hilfsbedürftigen gegenüber.
Hinter dem Augenscheinlichen das Wunder sehen
Der „Jünger, den Jesus liebte“ wird unmittelbar nach den Frauen Zeuge der Auferstehung. Er ist wohl der Erste, der versteht was geschehen ist. Bei ihm (wie auch bei Maria Magdalena!) sehen wir: wahre Gotteserkenntnis kommt nicht über Wissen und Verstand, sondern aus liebevoller Begegnung und Beziehung.
Aus der besonderen inneren Verbundenheit mit Jesus, vermag er die Geschehnisse zu deuten, sieht er das Wunder hinter dem Geschehen. Er sieht nicht zuerst mit den Augen, sondern mit dem Herzen.
Auch am See von Tiberias ist er der Erste, der das göttliche Wirken erkennt und versteht. Sein tiefes inneres Sehen bringt ihn zum Handeln, Zeuge der Hoffnung zu sein, dass die Liebe stärker ist als Gewalt und Tod und dass es in der Folge darum geht, den Geist und die Liebe Jesu in die Welt hinauszutragen.
Zeugnis geben und nachfolgen
Ganz am Ende des Johannesevangeliums (Joh 21,15-23) kommt er dann noch einmal vor, dieser „Jünger, den Jesus liebte“. Zuerst geht es im Dialog zwischen Jesus und Petrus um das Thema der Nachfolge. Es wird hier – wie im gesamten Johannesevangelium! - jedenfalls deutlich, dass im Kern von Nachfolge die Liebe steht. Für mich wird in dieser etwas rätselhaften Stelle angedeutet, dass es unterschiedliche Wege und Formen von Liebe und folglich auch von Nachfolge gibt. Dem Tun und Machen (Actio) des Petrus scheint zum Schluss noch einmal das einfache Dasein und Betrachten (Contemplatio) dieses Jüngers gegenüberzustehen. Zeugnis von Jesus zu geben, zeigt sich sowohl in den Taten als auch in der inneren Haltung. Es braucht beides.
Mag. Wolfgang Bögl, Theologischer Assistent der KMB OÖ
Bibelwissenschaftliche Hintergrundinfo:
Das Johannesevangelium sagt nirgends, wie der Name dieses Jüngers ist, aber in der Tradition wird er bisweilen mit dem Apostel Johannes gleichgesetzt, wofür es aus der Bibelwissenschaft allerdings keine Anhaltspunkte gibt. Ebenso wird in der Tradition sehr häufig der Apostel Johannes in den anderen drei Evangelien (=Synoptiker) mit dem „Jünger, den Jesus liebte“ im Johannesevangelium gleichgesetzt. Hier wird der Apostel Johannes mit Namen genannt, sehr oft in Verbindung mit seinem älteren Bruder Jakobus und mit Petrus, besonders auch in den beiden markanten Szenen am Berg der Verklärung und im Garten Getsemani, die wir im Johannesevangelium nicht finden. Auch diese Gleichsetzung ist aus bibelwissenschaftlicher Betrachtung nicht haltbar. Ebenso ist der „Jünger, den Jesus liebte“ auch nicht gleichzusetzen mit dem Verfasser des Johannesevangeliums und der drei Johannesbriefe - und schon gar nicht mit dem Verfasser des letzten Buches der Bibel, der Offenbarung des Johannes.